Scham und das Internatssyndrom – Der verborgene Schmerz
In einem spannenden Interview mit der Wiener Zeitung teile ich Einblicke zum Thema Internatssyndrom – warum frühe Trennungen oft tiefe Spuren hinterlassen. Hier lesen.“
Scham ist ein Gefühl, das viele Menschen nur schwer benennen oder verstehen können. Es zeigt sich oft subtil, als ein unangenehmes Gefühl der Unsicherheit, des Unwohlseins oder der Peinlichkeit. Doch für ehemalige Internatsschüler*innen, die frühzeitig von ihren Eltern getrennt wurden, kann Scham ein tiefer verwurzeltes, schmerzliches Thema sein.
Das Internatssyndrom, ein Begriff, der die psychologischen Folgen dieser frühen Trennung beschreibt, ist eng mit Gefühlen von Scham, Schuld und emotionaler Isolation verknüpft. Besonders die Erfahrung des plötzlichen Verlassenwerdens und das Leben in einem strengen, leistungsorientierten System prägen die emotionale Entwicklung dieser Menschen nachhaltig. Die Scham, die daraus resultiert, ist oft eine stille Begleiterin – sie bleibt im Verborgenen und beeinflusst Beziehungen, Entscheidungen und das Selbstwertgefühl.
In diesem Artikel erfährst du, wie Scham im Zusammenhang mit dem Internatssyndrom entsteht, welche Mechanismen dahinterstecken und warum das Verständnis dieses Gefühls der Schlüssel zu Heilung und innerer Freiheit sein kann.
Was ist Scham überhaupt?
Die gesunde Scham
Scham ist ein intensives Gefühl, das uns tief im Kern trifft. Sie entsteht, wenn wir uns bloßgestellt, nicht zugehörig oder abgewertet fühlen – sei es durch andere oder durch uns selbst. Scham ist ein selbstreferenzielles Gefühl, das heißt, es bezieht sich direkt auf unser eigenes Sein. Wenn wir uns schämen, denken wir Gedanken wie: „Ich habe einen Fehler gemacht” oder „Das war wohl nicht ok von mir“. Obwohl Scham uns oft lähmt oder dazu bringt, uns zu verstecken, hat sie auch eine wichtige Funktion: Sie hilft, unser Verhalten zu reflektieren und uns in sozialen Gruppen anzupassen.
In ihrer gesunden Form fördert Scham unser Gewissen und unsere Integrität. Doch wenn sie chronisch oder toxisch wird, kann sie unser Selbstwertgefühl stark belasten und uns daran hindern, unser volles Potenzial zu entfalten.
Die Toxische Scham
Toxische Scham geht weit über das normale Gefühl von Scham hinaus. Sie entsteht durch wiederholte Verletzungen, wie Demütigungen oder Grenzverletzungen und verankert sich tief im Selbstbild. Statt „Ich habe einen Fehler gemacht“ wird das Gefühl „Ich bin ein Fehler“ zur inneren Überzeugung. Toxische Scham lähmt, zerstört das Selbstwertgefühl und isoliert Betroffene. Anders als gesunde Scham, die uns hilft, uns weiterzuentwickeln, erfordert toxische Scham intensive Arbeit, um die inneren Wunden zu heilen und das eigene Selbstbild zu stärken.
Gesunde Scham versus Toxische Scham
Glaubenssätze, die durch toxische Scham entstehen können
„Ich bin nicht genug.“
„Ich bin falsch.“
„Ich gehöre nicht dazu.“
„Ich bin egal“.
„Ich bin nicht liebenswert“
„Ich bin nicht wichtig“.
„Ich darf keine Fehler machen“.
„Ich muss alles richtig machen.“
„Ich darf keine Bedürfnisse haben.“
„Ich muss alles richtig machen.“
„Ich bin nicht liebenswert.“
„Wenn ich Grenzen setze, werde ich abgelehnt.“
„Es ist gefährlich, Nein zu sagen.“
u.v.m.
Gründe und Auslöser für Scham im Internat
Internatsschüler*innen erleben oft intensive Schamgefühle, die durch die besonderen Strukturen und Dynamiken des Internatslebens ausgelöst werden. Diese Gefühle hängen eng mit Grenzverletzungen und dem Verlust der eigenen Würde zusammen. Hier sind die zentralen Gründe, die sich aus dem Internatsalltag ergeben und mit den allgemeinen Mechanismen von Scham verbunden sind:
1. Verbergen von Gefühlen und Bedürfnissen
Im Internat entsteht oft ein starkes Bedürfnis, echte Gefühle und Schwächen zu verbergen.
Warum: Gefühle wie Traurigkeit, Angst oder Wut werden als „peinlich“ oder „inakzeptabel“ wahrgenommen, da die hierarchische und wettbewerbsorientierte Umgebung Härte fordert.
Folge: Die Schüler unterdrücken ihre emotionalen Bedürfnisse, was ihre Würde und Integrität verletzt. Sie erleben Scham, weil sie nicht authentisch sein dürfen.
Bezug zu Grenzverletzungen: Das Ignorieren oder Abwerten emotionaler Bedürfnisse (z. B. „Reiß dich zusammen!“) verletzt die Grenze der emotionalen Sicherheit und verstärkt das Gefühl, nicht „genug“ zu sein.
2. Beschämung durch äußere Strukturen und Regeln
Strenge Vorschriften und Kontrollmechanismen greifen oft tief in die Privatsphäre ein:
Beispiele:
Öffentliche Strafen oder Demütigungen bei Regelverstößen.
Uniformvorschriften oder gemeinschaftliches Wohnen ohne Rückzugsmöglichkeiten.
Entwürdigende Rituale durch ältere Mitschüler, wie „Aufnahmeriten“.
Folge: Diese Maßnahmen überschreiten persönliche Grenzen, verletzen die Würde und lösen Scham aus. Schüler fühlen sich hilflos, weil sie ihre Grenzen nicht verteidigen können.
Bezug zu Grenzverletzungen: Die Missachtung körperlicher und emotionaler Privatsphäre (z. B. erzwungene Nähe oder öffentliches Bloßstellen) führt zu tiefer Beschämung.
3. Soziale Dynamiken und Gruppendruck
Gruppenverhalten im Internat verstärkt Scham oft durch Mobbing und soziale Vergleiche:
Beispiele:
Hänseleien, die Schwächen oder Verletzlichkeiten der Betroffenen bloßstellen.
Konkurrenzsituationen, in denen Schüler bei schulischen Leistungen, Sport oder sozialem Status als „weniger gut“ wahrgenommen werden.
Folge: Die Schüler entwickeln Glaubenssätze wie „Ich bin nicht gut genug“ oder „Ich bin ein Außenseiter“, was toxische Scham verstärkt.
Bezug zu Grenzverletzungen: Mobbing ist eine Form der Demütigung und Bloßstellung, die Scham auslöst und tiefe Wunden im Selbstwertgefühl hinterlässt.
4. Trennung von Eltern und Heimat
Die frühe Trennung von der Familie verstärkt das Gefühl des Verlassenseins:
Warum: Viele Schüler glauben, dass sie nicht „liebenswert genug“ waren, um bei ihren Eltern bleiben zu dürfen.
Folge: Diese Interpretation greift das Selbstwertgefühl an und verstärkt Scham, besonders wenn diese Gefühle durch fehlende emotionale Unterstützung im Internat verstärkt werden.
Bezug zu Grenzverletzungen: Das Gefühl, nicht genug geliebt oder gewollt zu sein, wird zu einem inneren Glaubenssatz („Ich bin nicht liebenswert“), der das Vertrauen in Beziehungen nachhaltig schädigt.
5. Verachtung und Schuldzuweisung
Verachtung: Arrogantes oder abfälliges Verhalten von Autoritätspersonen oder Mitschülern („Du bist schwach“).
Schuldzuweisung: Aussagen wie „Du bist schuld, dass wir dich bestrafen müssen“ verstärken das Gefühl, nicht nur falsch zu handeln, sondern falsch zu sein.
Folge: Diese Mechanismen machen die Schüler doppelt zum Opfer – sie fühlen sich nicht nur abgewertet, sondern auch für ihre Abwertung verantwortlich.
Langfristige Auswirkungen von Scham
Scham, vor allem in ihrer toxischen Form, hinterlässt tiefe Spuren im Leben der Betroffenen. Sie beeinflusst das Selbstwertgefühl, die Fähigkeit zu gesunden Beziehungen und sogar die körperliche und emotionale Gesundheit. Hier einige der wichtigsten langfristigen Auswirkungen:
1. Negatives Selbstbild und Glaubenssätze
Gefühl von Unzulänglichkeit:
Viele ehemalige Internatsschüler tragen die Überzeugung: „Ich bin nicht gut genug“ oder „Mit mir stimmt etwas nicht.“
Diese Glaubenssätze führen zu Selbstzweifeln und Strategien wie Perfektionismus oder emotionaler Abspaltung (Dissoziation), um Anerkennung zu erhalten und Scham zu vermeiden.
2. Schwierige Beziehungen
Probleme mit Intimität:
Die erlebte Scham führt zu Angst vor Verletzungen oder Verlassenwerden.
Viele Betroffene fühlen sich unwohl, sich emotional zu öffnen, aus Furcht, Schwächen könnten sichtbar werden.
Muster der Überanpassung oder Distanz:
Scham führt oft zu übermäßiger Anpassung oder dem Zurückhalten von Nähe, um Zurückweisung zu vermeiden.
3. Vermeidungsverhalten
Um erneute Schamerfahrungen zu vermeiden, entwickeln Betroffene Schutzstrategien wie Isolation, Perfektionismus oder übermäßiges „People Pleasing“.
Dieses Verhalten kann die persönliche und berufliche Entwicklung blockieren.
4. Psychische Belastungen
Langfristige Scham verstärkt negative Emotionen wie Schuld oder Minderwertigkeit und kann zu:
Angststörungen, Depressionen, Burnout führen
Sie verstärkt oft negative Emotionen wie Schuld oder Minderwertigkeit.
5. Körperliche Auswirkungen
Chronischer Stress:
Scham ist ein intensiver Stressauslöser, der das Nervensystem dauerhaft überlastet.
Dies kann zu chronischen Erkrankungen wie Schlafstörungen, Magen-Darm-Problemen oder Herz-Kreislauf-Beschwerden führen.
Fazit
Scham bei ehemaligen Internatsschülern entsteht oft durch das Spannungsfeld zwischen natürlicher Scham und Beschämungserfahrungen, die ihre Würde verletzt haben. Strenge Regeln, soziale Dynamiken und die emotionale Isolation prägen nicht nur ihre Kindheit, sondern hinterlassen toxische Scham, die tief in das Selbstbild eingreift und Beziehungen sowie die Lebensqualität langfristig beeinflusst.
Die gute Nachricht: Scham ist ein Teil des menschlichen Erlebens und kann mit liebevoller Zuwendung und therapeutischer Unterstützung überwunden werden. Traumasensibles Coaching bietet einen sicheren Raum, um Schamgefühle behutsam zu lösen, alte Wunden zu heilen und die eigene Würde und Selbstachtung zurückzugewinnen. Mit der richtigen Unterstützung ist es möglich, innere Freiheit und ein erfülltes Leben zu erreichen. Du bist nicht allein – der Weg zur Heilung ist offen.
Wenn du dir Unterstützung auf deinem Heilungsweg wünscht, melde dich gern bei mir!
Deine Lill
In einem spannenden Interview mit der Wiener Zeitung teile ich Einblicke zum Thema Internatssyndrom – warum frühe Trennungen oft tiefe Spuren hinterlassen. Hier lesen.“